Brisino di Stresa


Hoch über Stresa.
Hoch über Stresa.

Brisino ist ein uralter Ort, der zu Stresa gehört. Bereits die Kelten hinterließen hier ihre noch immer deutlich sichtbaren Spuren. Es gibt zwei größere Straßen, ein paar kleine Gassen, ein Hotel und zwei Kirchen - von denen eine bereits mindestens 1400 Jahre auf dem schief stehenden Buckel hat. Ein Friedhof, ein paar Wohnhäuser - das war es eigentlich schon an vorhandener Bebauung. Zum nächsten Supermarkt muss man vier Kilometer zurücklegen - und zwar bergab. Hiermit wären wir dann auch schon bei dem Punkt, der Brisino bestechend schön macht. Der Ort liegt auf etwa 400 Metern Höhe im Monte Mottarone und verfügt über diverse Aussichtspunkte. Sieht man nach links, schaut man auf den gesamten Golfo di Borromeo mit seinen fünf Inseln. Schaut man geradeaus kann man an klaren Tagen bis weit über Luino, Cannobio und den schweizerischen Teil des Sees bis in die Alpen blicken. Nacht rechts geht die Sicht in Richtung Ispra und darüber hinaus über die weite Wasseroberfläche. 

 

Bei meinem einwöchigen Aufenthalt dort hatte ich obendrein noch das Glück, auf der Couch eines netten Menschen namens Matteo zu surfen. Er lebte in der sechsten Etage des einzigen wirklich hohen Gebäudes in Brisino und verfügt über zwei Balkone und zwei Terrassen - eine davon über seiner Wohnung auf dem Dach. Man durfte auch drinnen rauchen, aber nie in meinem Leben bin ich lieber dafür nach draußen gegangen - die Kamera immer im Anschlag, versteht sich. Wie gern habe ich meine Augen über den See und die Berge gleiten lassen. Im gleißend hellen Morgenlicht nahm ich meinem Morgenkaffee auf dem Dach. Unter dem funkelnden Sternenhimmel saß ich oft mit Matteo und seiner Freundin Jessica, und wir sprachen über die Reisen, die wir schon gemacht hatten und jene, die noch vor uns liegen. Einmal stand ich während eines wütend um mich herum tobenden Sturms auf dem Dach, meine Kamera mithilfe einer Plastiktüte und eines Haargummis geschützt und jagte eine Nacht lang nach DEM Schuss eines Blitzes - und ich wurde nicht enttäuscht.

 

Der einzige Nachteil an dieser Lage war, dass ich morgens vier Kilometer runter an den See nach Stresa marschieren musste. Und abends natürlich auch wieder rauf. Matteo hatte so unmenschliche Arbeitszeiten, dass er mich so gut wie nie mit dem Auto mitnehmen konnte. Das war wirklich ein ganz neuer Eindruck für meinen sportlich so gar nicht geforderten Körper. Aber ich habe es ja überstanden, und dank verschiedener wundervoller Aussichtspunkte, war das tatsächlich auch ein Genuss.

 

Eines Morgens wollte es mein Gastgeber sich aber trotz seiner stetigen Plackerei nicht nehmen lassen, mich herum zu führen und mir etwas über Brisino zu erzählen. Wir schritten im Wald über kaum noch erkennbare, uralte Straßen aus Kopfsteinpflaster. Vorbei an beinahe unkenntlichen Ruinen ehemaliger keltischer und römischer Gebäude. Das Sonnenlicht spielte mit dem Laub in den hoch über uns thronenden Wipfeln und mit ein wenig Phantasie konnte man im Geiste das Geklapper der Pferdewagen hören, die hier einst von A nach B fuhren. Einer der Ausgänge aus dem Wald führte zum Friedhof, und hier erzählte Matteo mir eine Geistergeschichte aus dem Schatz der Sagen rund um den Berg.

 

Im Mittelatler lebte hier ein junger Mann, dessen Vater Kaufmann war. Besagter Vater war jedenfalls nicht zu dieser Zeit in Brisino, sondern befand sich in der Toskana. Sein Sohn übernahm in der Zeit die  Leitung des Kontors. Und jeden Abend, wenn der junge Herr von der Arbeit heimkehrte, kam er genau die Straße entlang, auf der wir eben noch standen. Als er wieder einmal nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause ging, hörte er aus dem Finstern hinter sich das Läuten kleiner Glöckchen. Er blickte um sich, aber das Licht seiner kleinen Wachsleuchte reichte nicht weit. Schnellen Schrittes setzte er seinen Weg fort, vorbei an dem stillen Friedhof und die Sicherheit seines Heims. 

 

Am nächsten Abend wiederholte sich das Läuten. Eine Woche ging das so, und die Glöckchen schienen dabei immer näher zu kommen. Und dann, nach acht Tagen, schälte sich aus der Nacht in weiter Ferne ein Schatten - ein bisschen heller als die ihn umgebende Dämmerung, denn er war der Träger dieser Glöckchen, in denen das Mondlicht matt reflektiert wurde. Das leise Klingeling des ersten Abends, als man all das noch als ein Hirngespinst hätte abtun können, war nun zweifellos erheblich näher und dem jungen Mann dicht auf den Fersen. Von lichterloh prennender Panik erfüllt rannte er nach Hause, schlug die Tür hinter sich zu und rutschte schwer atmend mit dem Rücken ebendiese entlang auf den Boden. Er dachte darüber nach, wegzulaufen. Den Ort auf Nimmerwiedersehen zu verlassen. Er klagte und fluchte, musste aber einsehen, dass er seines Vaters Geschäft nicht im Stich lassen durfte.

 

Natürlich hätte er jemanden bitten können, ihn des Nachts zu begleiten - aber viele Männer haben es auch damals noch nicht gern zugegeben, wenn sie Angst hatten. Also biss er die Zähne zusammen und ging weiterhin jeden Abend vom Kontor heim. Und sowohl der Schatten als auch das Geläut der Glöckchen kamen näher und näher. Sehr bald hatte er es satt, sich derart zu fürchten und entschied sich tapfer, diesmal dem Schatten entgegen zu gehen.

 

Man könnte nun schreiben "gesagt, getan", aber so einfach war das nicht. Er hatte die Hosen gestrichen voll, als er beim ersten Anblick der seltsamen, klingelnden Gestalt begann, auf sie zu zu laufen. Aber er rannte seine Furcht nieder. Besser mutig sterben als ein Leben in Angst. Schließlich blieb er stehen, ihn und den Schatten trennten nur noch  gut zwanzig Meter. Es war ein Mann in einem Cape und mit einer seltsam anmutenden Gesichtsmaske mit einem langen krummen Schnabel, wo der Mund hätte sein müssen. Um dem Hals trug der Mann kleine silberne Glöckchen, die nun endlich schwiegen. Er sah den jungen Herrn durch seine verschleierten Augen unverwandt an und erhob dann die knarzige Stimme. "Sieh nach Deinem Vater. Zögere nicht, reise sofort ab." 

 

Damit wandte sich die Gestalt um und schickte sich an, im Wald zu verschwinden. Der junge Herr riss sich aus seiner Starre und sprang dem Mann in den Rücken - nur um auf dem Kopfsteinpflaster zu landen. Der Maskenmann war fort, und mit ihm das Läuten. Verwirrt und mit dem Herzen voll Schrecken rappelte er sich auf und taumelte nach Hause. Er überlegte noch den Rest der Nacht, ob er nun tatsächlich in die Toskana aufbrechen sollte oder nicht. Im Morgengrauen packte er ein paar Sachen, jagte seinen Kutscher aus dem Schlaf und berief einen Stellvertreter für das Kontor. Dann machte er sich auf den Weg.

 

Einige Tagesreisen später erreichte er die Stadt in der Nähe von Florenz, in der sein Vater sich aufhielt. Am Haus des Gastgeber allerdings öffnete nur eine äußerst betrübte Magd die Tür. Sie verwies den Sohn ans Kloster, das auch das Krankenhaus beherbergte. Besorgt machte er sich auf, und ein Mönch ließ ihn ein. Vom Abt erfuhr er, dass sein Vater soeben verstorben sei. Der Gastgeber hatte sich gerade mit der Pest infiziert, als der Gast einkehrte und ihn angesteckt. Wenn er nun seinen Vater sehen wolle, dürfe er nicht vor der vogelartigen Maske erschrecken - sie diene dazu, die Feuchtigkeit des Atems nicht an die behandelnden Ärzte weiterzugeben. Weiterhin habe er Glöckchen um den Hals, die dienten dazu, nicht Infizierte auf weite Strecken schon zu warnen, dass sich ein Kranker nähert. Außerdem sei er in ein einen Umhang gehüllt, der aus dem Haus des Gastgebers stammte.

 

Ich kann ja solche Geschichten immer nicht ganz ernst nehmen. Abgesehen davon, dass es in diesem Fall wohl eher die Ärzte waren, die solche Masken trugen. Aber sie sind ein Teil jeder Kultur und von daher durchaus auch immer interessant zu hören. Eine weitere kleine Geschichte will ich aber auch noch zum Besten geben, und auch die habe ich von Matteo. Bei Gelegenheit werde ich sie auch noch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen - bisher ist das nur ein Gerücht, das manche betätigen und andere bestreiten.

 

Angeblich war Brisino bis in die 1970er Jahre etwas größer. Ein bisschen höher im Berg habe sich ein weiterer Ortsteil befunden, der jedoch aufgrund eines riesigen Steinschlages fast vollständig unbewohnbar wurde. Die Ruinen sollen aber noch da sein. Irgendwann mache ich mich auf die Suche nach ihnen und werde berichten, ob es stimmt oder nicht. 




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