Waldemars Kopfschmerzen


Waldemar, Polen, 1944
Waldemar, Polen, 1944

Die Historie meiner Familie ist voll von Geschichten über Gespenster. In jeder Generation gab es bisher einen, der von einer eigenen Begegnung mit einem Geist erzählt. Ich selbst bin von solchen Erscheinungen und vom Glauben daran verschon geblieben. Dennoch beeindrucken mich diese Berichte, denn meist sprechen sie nicht von Spuk allein. Im Fall meines Onkels Waldemar erfährt man zugleich das größte Drama in der Biographie meiner Großmutter Zofia. Sie ist zu einem guten Teil daran zerbrochen und nie ganz darüber hinweg gekommen. Sie sprach über ihren Sohn, bis sie gut fünfzig Jahre später nicht mehr reden konnte.

 

Anfang Februar 1945 war Waldemar sechs Jahre alt, Zofia mit meiner Mutter hochschwanger, ihr Mann war an der Front und russische Soldaten rückten immer näher an ihr Heimatdorf. Diese standen in dem Ruf, zu vergewaltigen und zu morden und so flohen die Frauen vor ihnen, wenn sie konnten. Das versuchte auch meine Großmutter, mit ihrem Sohn an der Hand. Nach drei Tagen unerbittlicher Wanderschaft durch den Schnee setzten die Wehen ein. Unter großen Schmerzen klopfte Zofia an vielen Türen, aber man wollte ihr keinen Einlass gewähren. Und so fanden die anrückenden Soldaten sie doch. Sie müssen eine sehr bizarre Mischung aus rettenden Engeln und fürchterlicher Bedrohung gewesen sein.

 

Zuerst zwangen sie den nächsten Nachbarn sein Bett zur Verfügung zu stellen. Während der Entbindung richteten sie ihre Gewehre aber nicht nur auf die Hausbewohner, sondern auch auf Zofia. Nicht lange nachdem meine Mutter zur Welt gekommen war, betrat einer der Soldaten die Schlafkammer, warf der Wöchnerin ihre Kleidung zu Füßen und befahl ihr, sich wieder anzuziehen. Anschließend drückte er ihr die Kinder in die Arme, brachte sie auf die Straße und riet ihr, nach Hause zurück zu kehren. Dort drohe keine Gefahr mehr.

 

Noch bevor er zurück im Haus war, erklang aus dem Inneren entsetzliches Schreien und Zofia begann zu rennen. Natürlich war sie noch schwach und so wurde sie bald langsamer. Der unaufhörliche Schneefall machte den Weg noch schwerer zu bewältigen. Aber sie erreichte abgekämpft mit ihren Kindern ihre winzige Hütte. Sie bestand nur aus einem einzigen Raum, aber ihr erschien sie nun wie das Himmelreich. Das sollte sich bald ändern.

 

In den nächsten Tagen wurde die kleine Familie eingeschneit und es war nicht mehr möglich, das Haus zu verlassen. Waldemar, der immer schon mit einer schwachen Lunge zu kämpfen hatte, sollte sich von den Strapazen der Flucht nicht mehr erholen. Er wurde sehr krank und litt an Atemnot. Mit wachsendem Schrecken stand Zofia dem Zustand des Kleinen immer ohnmächtiger gegenüber. Am Ende erstickte er über einen langen Zeitraum qualvoll und seine erschütterte Mutter um Hilfe anflehend.

 

Bis sie wieder vor die Tür treten konnte, gingen noch zwei Wochen ins Land, in denen Zofia mit ihrem toten Sohn und ihrer neu geborenen Tochter allein in diesem Zimmer war. Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, wie sie diese Zeit verbracht hat. Als sie nun wieder das Haus verlassen konnte, wollte sie Waldemar ein christliches Begräbnis zukommen lassen. Die Totengräber und der Pfarrer aber weigerten sich, die gefrorene Erde aufzugraben und rieten ihr, den Jungen im Schnee "aufzubewahren", bis sich die Wetterlage gebessert habe. 

 

Das ist etwas, das mir zu glauben schwer fällt, aber es muss so gewesen sein, denn es gibt viele Zeugen für diese Begebenheit und Familien, denen es ähnlich erging. So kam es, dass Zofia und ihre Schwester das Grab für das Kind selbst aushoben und der Pfarrer sich doch noch dazu herabließ, die Beerdigung zu leiten. Als Zofia an diesem Abend ins Bett fiel, hätte sie eigentlich schlafen müssen wie ein Stein. Aber sie erwachte, weil sie fror.

 

Sie schlug die Augen auf und - sie hat ihr Leben lang Stein und Bein darauf geschworen, dass es genau so war - im Schein des Feuers, nur wenige Schritte von ihr entfernt, stand Waldemar und starrte sie an. Einen Augenblick später verzog er das Gesicht und begann zu weinen. "Ich habe solche Kopfschmerzen, Mama. Alle trampeln auf meinem Kopf herum und das tut so weh." Seine Mutter war wie erstarrt und einen Wimpernschlag später war er fort. Sie erzählte, dass er Nacht für Nacht zurückkam und sich bitterlich über immer das Gleiche beschwerte, doch sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie litt unter schrecklichen Depressionen und Schuldgefühlen - und sie fürchtete den nächtlichen Besuch ihres eigentlich so geliebten Sohnes. 

 

Mit der Zeit verging der Winter und Zofia war dem Wahnsinn nahe. Als der Schnee endlich verschwunden war, machte sie aber bei einem Gang zum Friedhof eine überraschende Entdeckung. Sie hatte das Grab ihres Sohnes an der falschen Stelle ausgehoben, es ragte in den Gehweg hinein. Nun mussten die Totengräber doch noch ran und exhumierten Waldemar. Dabei stellten sie fest, dass er obendrein auch noch falsch herum gelegen hatte - mit dem Kopf unter dem Gehweg. Man bettete ihn um und das war das Ende des Spuks. Er erschien meiner Großmutter nie wieder, blieb aber als Legende in der Familiengeschichte stets lebendig.



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