Ode an meine Eltern


Symbolfiguren
Symbolfiguren

Dies ist quasi ein Nachtrag zu meinen Worten von gestern, wenn auch der Zusammenhang nicht auf den ersten Blick zu erkennen sein mag. Angesichts aller Dummheit und Intoleranz in dieser Welt, muss ich mich nämlich außerordentlich glücklich schätzen, dass ich in der Obhut von Eltern aufwachsen durfte, die in vielerlei Hinsicht sehr klug und ihrer Zeit weit voraus waren und mir beibrachten, was ich gestern klar machen wollte. Ich möchte nicht so weit gehen, zu behaupten, sie hätten nie Fehler gemacht. Aber das Wenige, was ich rückblickend als falsch betrachte, entstammte immerhin ausschließlich stets besten Absichten und tief empfundener Liebe für ihre Kinder. Sie waren in der Zeit, in der mein Geist geformt wurde, echte Vorbilder. Und ich möchte Euch gern sagen, warum.

 

Zunächst waren sie weltoffen genug, einander knapp 15 Jahre nach Kriegsende zu heiraten - zwei Menschen aus einst verfeindeten Nationen. Sie teilten ein Wissen, dass viele heute noch nicht begriffen haben - die wichtigste Rolle spielt, wer Du bist. Nicht woher Du kommst und was Du besitzt. Das demonstrierten sie, indem sie in ihrem ersten Haus einem Obdachlosen den Dachboden zur Verfügung stellten und mein Vater ihm einen Job auf einer der Baustellen der kleinen Firma gab, die er damals besaß. Sie hatten etwas Gutes in ihm erkannt und Recht behalten. Dieser Mann hat ins Leben zurück gefunden und es geht ihm noch heute gut. 

 

Als wir Kinder geboren waren, haben sie aus Angst vor potentiellen Pädophilen davon abgesehen, sowas zu tun - aber sie waren immer auf der Seite der Schwachen und Unterdrückten. Dabei waren sie durchaus nicht immer pazifistisch. Als wir mit nichts in den Taschen aus Kanada zurückkehrten, lebten wir in einem Hochhaus im sogenannten Problemviertel einer Stadt im Ruhrgebiet. Hier herrschten Verhältnisse, die man sich gar nicht vorstellen mag. Mord, Misshandlung, Prostitution, Alkoholismus, Drogensucht und alle Folgen daraus. Es gab viele Momente, in denen mein Vater Gegengewalt verwendete, um dem entgegen zu wirken. Er hat manch einem auf die Schnauze gehauen. Prügelnden Ehemännern und Erzeugern. Freiern, die in eine Wohnung wollten, in der eine Mutter sich selbst und ihre minderjährigen Töchter verkaufte. Und er hat oft sein Ziel erreicht, denn er konnte ein harter Hund sein, mein Papa. Mit einer Körpergröße von über zwei Metern und einer Vergangenheit als Söldner, Seemann und Steiger war er eine beeindruckende und mitunter Angst einflößende Erscheinung. Es gab viele, die sich ihm nicht zu widersetzen wagten.

 

Meine Mutter sah seinem Treiben besorgt, aber zustimmend zu und entschied sich selbst für die sanftere Variante des Widerstandes. Sie bekochte all die vernachlässigten Kinder der Nachbarschaft. Sie merkte sich deren Geburtstage und hatte dann einen Kuchen und ein kleines Geschenk für sie parat. Es gab einige unter diesen jungen Menschen, für die dies das erste Zeichen der Anerkennung in ihrem Leben war. Meine Mama hat bittere Tränen um deren Schicksal vergossen, weil sie wusste, dass sie das große Ganze nicht würde ändern können. Aber sie gab alle Lichtblicke, zu denen sie fähig war.

 

Später wurde dieses Viertel in Privateigentum umgewandelt und die Zustände verbesserten sich für uns erheblich. Es war bei aller Liebe sicher auch eine Erleichterung für meine Eltern, dieses Elend nun nicht mehr täglich sehen zu müssen. Aber sie blieben sich weiterhin treu und halfen, wo immer Not am Mann war. 

 

Das war aber nur ein Bruchteil ihres bewegten Lebens. Meist ging es uns ja gut und wir waren nicht nur von Armseligkeit umgeben. Mein Elternhaus war immer ein Platz voller Menschen, die aus allen Teilen der Welt kamen. Der Tisch war für alle gedeckt und die Diskussionen darum herum immer lebhaft und von Offenheit geprägt. Themen, die man nicht anfasste, gab es nicht. Es kam auch nie vor, dass wir Kinder aus dem Raum geschickt wurden, weil jetzt die Erwachsenen redeten. So war ich von Anfang an den unterschiedlichsten Einflüssen ausgesetzt. Habe alle vorhandenen religiösen Thesen gehört und früh verstanden, warum meine Eltern Atheisten und Humanisten waren. Kannte viele Meinungen zu politischen und humanitären Fakten und wurde stets dazu angehalten, mir eine eigene zu formen. 

 

Beide meiner Eltern galten als ungebildet, nur mit einem Volksschulabschluss in der Tasche. Aber sie umgaben sich mit Wissen in allen Formen. Regale voller Bücher in drei Sprachen waren unsere wichtigsten Einrichtungsgegenstände. Wir wuchsen auch dreisprachig auf - und Mama hätte noch eine vierte parat gehabt, wenn sie nicht angenommen hätte, wir seien damit überfordert.

 

Das zweifellos größte Geschenk machten die beiden mir, indem sie in ihrer Gleichwertigkeitsrechnung keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen machten. So kam ich in den Genuss, alles das zu dürfen, was meinen Brüdern ebenfalls frei stand. Mir wurde zum Beispiel nie gesagt, ich dürfe zu Hause keinen Sex haben - wohl aber wie man eine Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten verhindert. Das ist etwas, was man Mädchen bis heute noch viel zu viel abspricht und die Folgen sind bekannt.

 

Viel wichtiger war aber für mich, dass ich reisen durfte. Ab dem zehnten Lebensjahr mit Jugendgruppen, später allein. Fünf Mal im Jahr - in allen Ferien nämlich und im Sommer zwei Mal. Immer in ein anderes Land und immer mit einem Auftrag. Ich musste nämlich ein Reisetagebuch führen, dass ich später zu Hause vorlegen sollte. Dabei gab es so gut wie keine Vorgaben. Ich sollte nur täglich etwas finden, was mich beeindruckt, die Fakten dazu zusammentragen und erklären, warum ich mir genau das ausgesucht habe und nichts anderes. Ihr ahnt, wo der Grundstein für diesen Blog und meine Bücher gelegt wurde. Viele Jahre später habe ich meine Mama mal gefragt, wie das eigentlich finanziert worden ist, meine Eltern waren ja nicht reich. Es stellte sich heraus, dass sie nachts heimlich Kneipen geputzt hatten, wenn ich schlief, um das für mich bezahlen zu können. Das rührt mich noch immer. Während ich dies schreibe, läuft mir das Wasser aus den Augen.

 

Sie sorgten auch dafür, dass ich bestimmte wichtige Momente der Geschichte hautnah erleben durfte. Als beispielsweise 1989 die Grenzen der DDR geöffnet wurden, verschwendeten sie keine Zeit. Sie packten mich ins Auto und wir fuhren nach Berlin. Ich war dabei, als sich Wildfremde tränenüberströmt an der Mauer in die Arme fielen.

 

Neben Toleranz, Emanzipation und Weltoffenheit haben Mama und Papa mir noch einen wichtigen Wert vorgelebt: Loyalität. Sie hielten zusammen, durch alle Krisenzeiten. Es gab meines Wissens keine Seitensprünge und kein sich im Stich lassen, wenn es hart auf hart ging. Sie wären füreinander und für uns Kinder durch die Hölle gegangen und gestorben. So führten sie auch Freundschaften. Kompromisslos füreinander da sein war die Devise.

 

Als ich aller Ausführlichkeit erkannte, was ich bekommen hatte, das andere nicht hatten - war mein Vater schon verstorben. Ich bedaure, dass ich mich nur meiner Mama gegenüber dankbar zeigen kann. Aber ich werde es beiden nie vergessen und ihre Opfer immer achten, indem ich ihre Werte fortführe und andere daran teilhaben lasse.



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